WIR SPIELEN ZUKUNFT
Marketing-Professor Christian Blümelhuber entwirft für Unternehmen individuell Spiele für deren Zukunft. Strategien sind wie Scheuklappen, sagt er. Besser ist es, rechts und links des Weges zu schauen. Und das geht spielerisch am besten
Vor fünf Jahren ließ ein Marketing-Professor mit einer Theorie aufhorchen: „Marketing ist Porno“ hieß sie, Christian Blümelhuber ihr Erfinder.
So markant der Titel war, so nachvollziehbar ist die These dahinter: Marketer müssen ihren Zielgruppen immer wieder Neues, Elektrisierendes bieten. Blümelhuber, damals Professor an der Brüsseler Solvay Business School, verglich James Camerons „Titanic“ mit einem Pornostreifen: Hier ein fulminanter Höhepunkt – und dann geht das Schiff unter. Dort eine ununterbrochene Folge von Höhepunkten, jeder anders, aber jeder mit dem Ziel, das Publikum stets aufs Neue zu überraschen und bei der Stange zu halten. So wie gutes Marketing eben.
Jetzt hat Blümelhuber etwas Neues. Inzwischen sitzt er nicht mehr in Brüssel, sondern ist zurück in seiner Heimat. Dort lehrt er strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste Berlin. Obwohl er weder von Strategie noch von Planung besonders viel hält: „Wir meinen immer, ohne Planung überleben wir nicht. Also analysieren wir unsere Umwelt. Dann planen wir etwas. Und das nennen wir dann Strategie.“ Das würde ja vielleicht auch funktionieren – würde sich nicht die Umwelt so schnell ändern. Ein neuer Trend, ein neuer Verbraucherwunsch, ein neuer Konkurrent, und schon ist alles anders. „Ändert sich nur ein Parameter, passt nichts mehr zusammen.“ Daher sei es falsch, alles auf nur ein Pferd zu setzen. Viele Pferde müssen her.
Glück statt Strategie
Unternehmen brauchen nicht mehr Strategie, postuliert Blümelhuber, sondern mehr Glück. So einfach. Was aber ist Glück? Die Antwort fand er im Buch „The Luck Factor“ des britischen Psychologen Richard Wiseman. Der wollte herausfinden, was Glückspilze von Unglücksraben unterscheidet. Er lud Studenten unter einem Vorwand in ein Büro ein, das bewusst weitab vom Schuss lag und obendrein schwer zu finden war. Auf der Straße drapierte Wiseman gut sichtbar einen Geldschein. Welche Studenten hatten das „Glück“, ihn zu finden? Und was hatten sie gemeinsam?
Es sind die Entspannten, fand Wiseman bald heraus, die genug Muße haben, um die Gelegenheiten rechts und links des Weges zu erkennen und etwas daraus zu machen. Wer nur gestresst und mit Scheuklappen auf das vermeintliche Ziel zustrebt, geht am „Glück“ vorbei. Im Umkehrschluss: Unternehmen, die ihren Leuten enge Strategien und Ziele ohne Bewegungsspielraum vorgeben, verhindern, dass die Mitarbeiter Möglichkeiten und Chancen am Straßenrand bemerken und ergreifen.
Blümelhuber beschreibt das Leid vieler Marketing- und Werbeleute: „Sie sitzen den ganzen Tag am Schreibtisch und füllen Excel-Sheets aus, weil die Zentrale es von ihnen verlangt. Sie hassen das, es schränkt sie ein, aber sie müssen es tun, weil es das Management beruhigt.“ Echte Beruhigung aber komme nicht von Excel-Tabellen und Strategieplänen, sondern aus der Gewissheit, überlebensfähig zu sein. Und das könne man trainieren.
Spielen, nicht planen
Wenn das Ziel ist, in jedem Szenario überleben zu können, müsse man auf mehrere Pferde setzen. Und man müsse ohne Anstrengung von einem aufs andere wechseln können. Das erfordere „ein Portfolio an Möglichkeiten und Optionen“. Die könne man nicht am Reißbrett entwerfen, meint Blümelhuber, sondern man müsse sich ihnen kreativ nähern. So wie Kinder es tun.
Also entwarf der Professor gemeinsam mit Kollegin Daniela Kuka ein Brettspiel – ähnlich dem bekannten Monopoly. Jedes Unternehmen bekommt seine eigene handgeschnitzte Version. Die Berliner Stadtwerke, eine Krankenversicherung, das städtische Bestattungsinstitut (alle Fans von Blümelhubers Spieltheorie) bildeten im ersten Schritt ihre Organisation am Spielbrett ab (siehe Foto).
Dann spielten sie ein paar Aufwärmrunden: der Vorstand mit dem Marketingleiter etwa, einem Filialleiter und ein paar Kollegen aus den unteren Ebenen. Erst ohne Zusatzaufgabe, dann in wechselnden Kreativszenarien: Was würden wir im 18. Jahrhundert machen, was in einer Welt ohne Autos, was, wenn unsere Kunden plötzlich etwas ganz anderes wollen? Manchmal kämen die Ideen zu den Szenarien aus der Organisation selbst, sagt Blümelhuber, manchmal helfe er ihr mit Trends und eigenen Ideen auf die Sprünge. Immer jedoch erkannten die Spieler nach ein paar Runden, welche Stärken ihr Haus auszeichnen und was ihre Unternehmensidentität ausmacht. Und sie wussten dann auch, wo es bei ihnen hapert. Die Krankenversicherung etwa verstand nach ein paar lustigen Spielrunden, dass sie sich in jeder Situation auf gewisse Ressourcen verlassen konnte: ihren guten Draht zu Politik und ihr hervorragendes Lobbying etwa. Dafür konnten sie in keinem Szenario auf neue Kundenwünsche reagieren. „Ihre Datenbank und ihre technische Infrastruktur waren so starr, dass sie unmöglich neue Angebote legen konnten“, erinnert sich Blümelhuber.
Schlussfolgerung: Die Versicherung baute IT und Datenbank so um, dass sie auf jede Veränderung reagieren konnte. Der Rest passte ohnehin. „Und wissen Sie, was das Schönste war?“, schließt der Professor, „Das haben sie in nur drei Stunden herausgefunden. Und die ganze Zeit hat keiner auf sein iPhone geschaut.“
Autorin: Mara Leicht HORIZONT-Ausgabe 39/2015